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Am 9. September 1914 gegen 07.30 Uhr morgens ereignet sich das später
- von der französischen Seite - oft beschworene „Wunder an der Marne".
Den zum Wunder gehörenden Heiligen sucht man im französischen Kalender
allerdings nicht, obwohl er namentlich bekannt ist: Oberstleutnant Hentsch.

„Macht mir den rechten Flügel stark..." Das Vermächtnis des Grafen Schlieffen
war ja nicht erfüllt worden, und der Angriffsflügel, bestehend aus der 1. und
2.Armee, hatte sich auch aufgrund des bisherigen Kriegsverlaufes auch nicht
nach Moltkeplan verhalten, indem er Paris rechts liegen ließ und die Umfassungs-
und Vernichtungsschlacht  nunmehr im Süden suchte und auf die Marne zu-
marschierte.

Und dann geschehen merkwürdige Dinge. Durch mangelhafte Aufklärung wissen
die Armeen nicht recht, wo der Gegner steht, und die Oberste Heeresleitung
auch nicht. Sie bedindet sich ca. 300 Kilometer hinter der Front, untergebracht
in der Mädchenschule von Luxemburg. Zu einer Zeit, als etwa zwischen dem
Großsender Nauen bei Berlin und Großfunkstationen in den Schutzgebieten bei
günstigen Bedingungen Nachrichten im Minutentakt ausgetauscht werden,
schickt die OHL einen Oberstleutnant im Kraftwagen an die Front. Der hatte
schon einen Monat vorher die Front abgefahren und der OHL dann Bericht er-
stattet.

Er besucht den General von Bülow, er besucht den General von Kluck, und
dann fällt irgendwann das Wort „Rückzug!". Und Punkt 12.00 Uhr mittags am
09.September 1914 machen zwei deutsche Armeen kehrt, weil ein sächsischer
Oberstleutnant, im Kraftwagen mit dem Stander der OHL angereist, dies so
befahl. (Reichsarchiv: „ In kurzen, bestimmten Worten befahl der Oberstleut-
lnant Hentsch den Rückzug.")

Die Verblüffung über den plötzlichen Rückzug war bei Freund und Feind gleicher-
maßen groß. Erst einige Zeit später- Wochen-  wurde aus dem angeordneten
deutschen Rückzug auf dem Papier die „Erste Marneschlacht".  Sieger war Joffre,
der, zeitlich passend- ja am 4. September die Poilus mit dem Taxi aus Paris direkt
an die Marne fahren ließ. Am 09.09.1914, 12.00 h, zogen sich die Deutschen zurück.
Die Briten standen zu diesem Zeitpunkt 8 km nördlich der Marne; kein Franzose
hatte die Marne überschritten. Eine Verfolgung der deutschen Armeen fand nicht
statt. Der spätere Marschall Sir Douglas Haig, der mit seinen Truppen ain der Nähe
stand, erklärte später, von einer „Marneschlacht" nichts bemerkt zu haben.

Hentsch ist schuld- in einer Armee, wo man kein Paar Stiefel oder eiserne Portion
ohne ein Stück Papier erhält, ist es sehr bemerkenswert, daß der Oberstleutnant
den Befehl mündlich gab, weil er von der OHL keine schriftliche Vollmacht hatte,
und die Generale ihn ausführten, ohne nach einer Vollmacht zu fragen. Das führte
später zu unwürdigen Diskussionen bei der Bewertung des Vorganges, und alle
Beteilgten lieferten später ihre eigene Version der Geschichte.

Hentsch behauptete immer, mündlich von Moltke Vollmacht erhalten zu haben,
Moltke hingegen bestritt dies. Moltke verstarb im Juni 1916, Hentsch im Februar
1918. Von der OHL wurde Hentsch 1917 nach einer Untersuchung von allen
Vorwürfen freigesprochen, die Meinungen hierzu waren jedoch geteilt. Für einige
taugte er noch lange gut als Sündenbock.

Setzen wir voraus, was wohl wahrscheinlich ist, daß Hentsch nicht aus eigenem
Antrieb massiv und mit erheblichen Folgen in die Kriegsführung eingriff, muß man
sich natürlich fragen, wie es um die Organisation und Qualität der OHL und die
der beteiligten Armeeführer bestellt war. Generäle, die von Oberstleutnanten
mündliche Befehle annehmen, und hinterher die Chutzpe haben, sich als Opfer
einer Täuschung hinzustellen. Ein Generalstabschef, der Generalstabsoffiziere
ohne schriftlichen Befehl oder Vollmacht mit mündlichem Auftrag an die Front
schickt, und hinterher keine Verantwortung übernimmt.

Immerhin hat er den Mut gefunden, dem Kaiser schon am 9. September zu
erklrären: „Majestät, der Krieg ist verloren!"  Ob und in welcher Art die Rolle
des Oberstleutnants Hentsch hierbei erwähnt wurde, ist allerdings nicht über-
liefert.

Rückblickend muß man bedenken, daß Moltke, der ja die Schwächen seines
eigenen Angriffplanes kannte, und dessen Führungsqualität in den eigenen
Reihen kritisiert wurde, sich wohlwissend  und scheinbar schicksalsfügig
in das Unabänderliche- das voraussichtliche Scheitern der Offensive- gefügt
hat.  ( Joffre später  über Moltkes Führungsstil:„... einem Postkutscher eine
Lokomotove anvertraut").

Im Nachhinein hätte man sich auch gewünscht, daß der Generalstabschef
sich vielleicht schon vor dem Kriegsausbruch erklärt hätte. Die Unvollkommen-
heit des modifizierten Schlieffenplans waren ja schon länger kritisiert worden,
und die zur Ausführung des deutschen Kriegsplanes benötigten Truppen und
das Material waren ja nicht vorhanden. Hätte, wäre, könnte- aus heutiger
Sicht hätte ein Gespann Hindenburg/Ludendorff an der Stelle Moltkes vielleicht
Erfolg gehabt. Diese haben ihren Aufstieg ja nicht dem Umstand zu verdanken,
daß sie begandete und brilliante Heerführer und Strategen waren, sondern
ganz banal dem Umstand, daß sie in Ostpreußen 1914 da, wo sowieso alles
auf dem Spiel stand, bereit waren, auch alles aufs Spiel zu setzen.
 

Noch ein Datum aus der Geschichte:

27.08.1938. Aufgrund Widerspruchs zu den Kriegsplänen Hitlers
tritt der Generalstabschef des Heeres, General Ludwig Beck, zurück.
Zitat Beck: „ Dieser Krieg ist verloren, bevor der erste Schuß fällt."