|HOME|MAIN|                                                     08.10.2004

In Deutschland tritt zum 01. August 2005 die neue Rechtsschreibung in
Kraft. Die Mehrheit der Ministerpräsidenten der Bundesländer haben dies
so beschlossen.
Der Beschluß wie auch die eigentliche Reform steht noch immer in der Kritik.
Rund 105 Millionen Menschen, die deutsch als Ihre Muttersprache bezeichnen,
sind bei der Entscheidungsfindung nicht beteiligt gewesen; sie haben sich
auch nicht an einer Entscheidung beteiligen dürfen; die Entscheidung
zur Einführung der neuen Rechtschreibung hat sich die Politik vorbehalten.

Keine der bisherigen zahlreichen Umfragen unter den Betroffenen hat eine
Mehrheit für die neue Rechtschreibung ergeben. Die Schulkinder müssen schon
seit dem Jahr 2000 nach neuen Regeln schreiben, staatlich verordnet. Und
der Staat erklärt auch dreist, daß eine Rückkehr zur alten Rechtschreibung
in den Schulen schon aus finanziellen Gründen nicht möglich sei- da müßten
ja alle Schulbücher neu gedruckt werden. Mit der gleichen Argumentation
spricht sich 1997 der Haushaltsausschuß des Bundestages parteiübergreifend
und mit deutlicher Mehrheit gegen die Rechtschreibreform aus und der Kultus-
ministerkonferenz die Kompetenz für die Reform der deutschen Schriftsprache ab.

Warum überhaupt die Politik und der Staat so entscheidungstragend an der
Rechtschreibreform beteiligt sind, hat historische Gründe und ist nicht etwa
dadurch begründet, daß Staat und Politik als Sprachträger besonders geeignet
wären- ganz im Gegenteil.
Die Begriffe „Amtsdeutsch" und „Behördendeutsch" sind ja nicht von ungefähr
negativ besetzt; hier zeigt sich unter anderem die Unfähigkeit und Unwillig-
keit von Behörden, staatlicher Stellen und der Berufspolitiker, sich der Sprache
so zu bedienen, daß der Inhalt des Geschriebenen der  Mehrheit der Leser
überhaupt zugänglich und verständlich ist.

Die Unfähigkeit, sich allgemein verständlich zu artikulieren, wird aber nicht
durch die Änderungen an der Orthographie gebessert.

Historische Stichworte:
Im 16. Jahrhundert bildet sich im „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation"
eine deutsche Schriftsprache heraus. Die Lutherbibel von 1542 beeinflußt die
Entwicklung einer gemeinsame Schrift- und Hochsprache ganz wesentlich;
Grundlage ist die mittelhochdeutsche Sprache.

1653 „Deutsche Grammatica" (Großschreibung der Substantive)
1722 „Anweisung zur teutschen Orthographie" von Hieronymus Freyer
1854 „Das deutsche Wörterbuch" der Gebrüder Grimm
1872 „Die deutsche Rechtsschreibung" von Konrad Duden

Nach der Reichsgründung 1871 bemühte man sich, dem Bundesstaat einheitliche
Maße, Gewichte, Währung und Gesetze zu geben. Die Initiative, auch eine
gemeinsame Schriftsprache zu schaffen, kam dabei nicht von staatlicher Seite,
sondern von Gelehrten, Verlegern, Schriftstellern, Pädagogen, Journalisten und
anderen Personen und Institutionen, die täglich mit Schrift und Sprache als
Handwerk umgehen mußten. Bis dato gab es überhaupt keine gemeinsame Ortho-
graphie, es wurde auch nebeneinander lateinische und Kurrentschrift nach Belieben
verwendet. Das Königreich Hannover führte 1855 an den Schulen eine einheitliche
Rechtschreibung ein; das preußische Kultusministerium forderte noch 1862 per
Erlaß, daß zumindestens an der gleichen Schule eine einheitliche Rechtschreibung
gelehrt würde! Reformbedarf per se war also schon vorhanden.
 

Einberufen wurde die Konderenz jedoch vom  preußischen Kultusminister.

Eine erste orthographische Konferenz.  in Berlin 1876, einberufen vom
preußischen Kultusminieter, erarbeitete ein einheitliches Regelwerk, und scheiterte
damit- die Reform wurde von den Konservativen abgelehnt.und konnte sich nicht
durchsetzen. Reichskanzler und Ministerpräsident Bismarck verbot seinen Beamten
unter Stafandrohung die Verwendung der neuen Orthographie.

Und so kam bei der Rechtschreibreform die Politik und der Staat überhaupt ins Spiel-
ohne die Zustimmung und Einsicht des größten und einflußreichsten Bundesstaates
Preußen ging nichts. Erst mit den zweiten orthographischen Konferenzen von 1901
in Wien und Berlin gab es grünes Licht zu einer Rechtschreibreform, die 1902 allgemein
umgesetzt wurde, und zwar von allen an der Reform beteiligten deutschsprachigen
Gruppen, vertreten durch die Reichsregierung, der österreichischen Regierung, den
schweizer Bundesbehörden. Die deutschen Emigranten in den USA führten die Recht-
schreibreform für die deutschen Schulen ebenfalls ein. Die nach der russischen
Oktoberrevolution gegründete Republik der Wolgadeutschen schloß sich der Recht-
schreibreform 1927 an.

Seit 150 Jahren bemüht man sich um eine gemeinsame Orthographie, wobei es
immer verschiedene große Strömungen gab; strittig ist immer die Großschreibung,
das ß, Trennungsregeln und das Eindeutschen von Fremdwörtern.
In Österreich wurde zum Beispiel 1879 nach kurzem Vokal die ss-Schreibung
statt ß eingeführt, und mit der Reform von 1901 wieder abgeschafft.
 

Wie wir also sehen, waren es 1876 der Staat und konservative Kreise, die
für das Scheitern einer Reform verantwortlich waren; die Mehrheit der
Bundesratsmitglieder des Deutschen Reichs hatten die Reform abgelehnt;
dies führte aber immerhin zu Regelungen auf Länderebene.
Nachdem Konrad Duden erkannte, daß ohne die Beteiligung Preußens
eine einheitliche Regelung nicht möglich war, veröffentlichte er 1880
sein „Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache"
auf der Grundlage der preußischen Regeln, und Staat und Politik wurden
an der zweiten orthographischen Konferenz von 1901 stärker beteiligt.

Und so fiel die Sprache den Politikern in die Hände, und die Kultusminister-
konferenz der Bundesländer zum Entscheidungsgremium in Sachen Ortho-
graphie. Übrigens wird die KMK gerade abgewickelt und aufgelöst- so
wirklich gebraucht wird sie anscheinend nicht, aber die neue Reform haben
wir ihr noch zu verdanken.

Und konnte der Gymnasialdirektor Dr. Konrad Duden im Vorwort zur siebten
Auflage seines Werkes 1902 dankbar feststellt, daß nunmehr endlich auch
die Behörden so schreiben werden, wie es in den Schulen gelehrt wird,
stellen wir einhundert Jahre und eine Reform später fest, daß die Situation
sich umgekehrt hat: Die Behörden verordnen uns, wie in der Schule geschrieben
wird.


 
Übrigens ist die neue Rechtschreibung von 1901 dann auch bei den Militär-
behörden sofort umgesetzt worden, obwohl noch eine geraume Zeit lang
aus Sparsamkeit alte Stempel, Formulare und Druckwerke aufgebraucht
wurden. Auch war den älteren Jahrgängen die neue Rechtschreibung
manchmal schwer zu vermitteln, die sich weiterhin der gewohnten be-
dienten, wie bei zahlreichen handschriftlichen Dokumenten aus der
Zeit festzustellen ist.