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Walter Flex, Schriftsteller.
Geboren am 06.07.1887. Kriegsfreiwilliger; gefallen am 16.10.1917
bei Peudehof auf der Insel Ösel.
1913 Zyklus: „Zwölf Bismarcks"; Tragödie: „Klaus von Bism,arck"
1914 Gedichte: „Das Volk in Eisen", „Sonne und Schild" „Im Felde zwischen Tag und Nacht"
1915 "Erzählung „Vom großen Abendmahl. Verse und Gedanken aus dem Feld".
1916 Erzählung „Wallensteins Antlitz. Gesichte und Geschichten aus dem Dreißigjährigen Krieg"
1917 Autobiographische Kriegserzählung „Wanderer zwischen beiden Welten"
Liedertexte: „Wildgänse rauschen durch die Nacht"

Das Gedicht „Ihr toten deutschen Soldaten" entstammt der Erzählung
„Das Weihnachtsmärchen des fünfzigsten Regiments."
 
 
Walter Flex: Das Weihnachtsmärchen des fünfzigsten Regiments.

Dieses Weihnachtsmärchen von den toten Soldaten las ich am Heiligen Abend bei der Christfeier der fünften Kompanie vor dem tannenbekränzten Altar der Dorfkirche von D......, wo wir den Heiligen Abend feierten. Unsere schwere Geschütze dröhnten dazu eine nachdenkliche Begleitung. Im Schiff der Kirche stand die Kompanie um drei lange, reichgedeckte und kerzengeschmückte Gabentische. Vor dem Altar flimmerten mächtige Weihnachtsbäume und warfen ihren Flackerschein über die dunklen Granatrisse und Blutflecken an Wand und Decke des französischen Kirchleins. Am Weihnachtsmorgen rückten wir wieder in Feuerstellung. W.F.

Ein junger Bauer, dem sein Vater keine Scholle eigenen Bodens hat vererben können, hatte sich ein paar Acker Landes zur Bewirtschaftung gepachtet. Aber als er sich mit seinem fleibigen Weibe im Hochsommer anschickte, die erste schöne Ernte einzubringen, rüstete der Kaiser einen gewaltigen Krieg gegen räuberische Feinde, die seine Grenzen im Osten und Westen tückisch bedrohten. Und er rief auch den jungen Bauern unter seine Fahnen.Da wurde der Bauer Soldat. Ohne Murren folgte er dem Rufe, der an die wehrfähigen Söhne des Landes erging, und lieb sich in den grauen Rock seines Königs einkleiden. Ohne viele Worte schied er von Frau und Kind. Das junge Weib kübte unter Tränen die Waffen des Scheidenden, und das unmündige Knäblein brachte in seinen ungeschickten dicken Händchen rote, blaue und weibe Bauernblumen aus dem Gärtchen und jauchzte, wenn sie der Vater an Helm und Gewehr steckte. Lange sah der Soldat auf das spielende Kind, dann drückte er noch einmal die Hand seines Weibes, fabte die Waffen fester und schritt von dannen.

Tage und Wochen gingen ins Land, und statt des ersehnten Friedens brannte der Krieg immer heller über die ganze Erde. Die verlassene Frau schlug sich mit ihrem Knäblein kümmerlich genug durch. Sie mühte sich redlich, die Ernte einzubringen und dem reichen Bauern den Pachtzins zu erlegen, aber es wollte ihren schwachen Kräften nicht geraten. Zu Anfang schickte der Soldat noch dann und wann Grübe und ein paar Pfennige, die er sich von seiner Kriegslöhnung absparte, nach Hause. Seine Briefe kamen aus fernen und immer ferneren Ländern und brauchten immer längere Zeit, um den Weg in die Heimat zu finden. Zuletzt, als die Nächte anfingen kalt zu werden und des Morgens Reif statt des Taues auf Halmen und Gräsern lag, blieben sie ganz aus. Und wieder nach ein paar Wochen, als Bäche und Seen vom ersten Eise überfroren waren und die Vögel aus dem verschneiten Wäldern sich in die Dörfer zogen, kam ein Brief des Hauptmanns, unter dessen Befehl der junge Bauer gedient hatte, und in dem Briefe stand, der Soldat sei als tapferer Mann im fremden Lande gefallen.

Das arme Weib las den Brief, und der Atem versagte ihr. Sie prebte ihr Kind, das zum Waislein geworden war, in stummem Jammer an die Brust, und das Herz wollte ihr brechen vor Weh. Sie glaubte, es könnte sie auf Erden nichts härteres treffen, und die Lust am Leben erlosch wie ein Licht in ihrem armen Herzen. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Der reiche Bauer bestand auf dem Pachtgelde, das der Soldat ihm schuldete, und setzte dem armen Weibe den Stuhl vor die Türe. Da hatte sie kein Dach mehr zu Häupten, kein Herdfeuer, die erstarrten gliederchen ihres frierenden Kindes zu wärmen, und kein Bröcklein Brot, seinem Hunger zu wehren. In dieser letzten Not des Leibes und der Seele wurde ihr das Leben leid, und sie beschlob, mit ihrem Knaben zu sterben, ehe sie ihr Fleisch und Blut an hunger und grausamer Kälte elend verderben sähe.Es war der Tag vor Weihnachten, als der hartherzige Bauer Mutter und Kind von Haus und Hof vertrieb, und am heiligen Christabend stand sie in Schnee und Elend auf freier Landstrabe, wo Sturm weht und Schnee geht.

Da sprach sie zu dem Knäblein auf ihren Armen: "Komm, Hänslein, du sollst nicht mehr hungern und frieren, wir wollen zum Väterchen gehen!" "...zum Väterchen gehen", lallte das Kleine schlaftrunken nach, und sein Köpfchen sank nieder. Da fabte sich das verzweifelte Weib ein Herz, verlieb die Landstrabe und schritt querfeld und waldein. Dort wubte sie eine heimliche Stelle, wo die kahlen Buchen räumig und licht um ein stilles Wasser standen, dessen Grund seit Menschengedenken niemand hatte ermessen können. Ein Vaterunser lang stand sie an dem verschneiten Grubenrande, dann prebte sie das Knäblein fester an sich, tat einen Sprung und fühlte, wie die kalten Wasser über ihr zusammenschlugen. Ein Weilchen kämpfte sie noch, ein Weilchen spürte sie Lindigkeit in ihrem armen Herzen, dann verging ihr die Sinne.War es kurz oder lange, so erwachte sie und kam zu sich. Sie blickte mit verlorenen Augen und dumpfen Sinnen um sich, und die Erinnerungen liefen ihr zu und entliefen ihr wie tölpische Hündlein. Endlich kam's ihr doch wieder, was sie erlitten und getan hatte, und sie erstaunte sehr.

Denn ihr Knäblein lag ihr noch leise schlummernd im Arm, als wübte es nichts von Leben und Sterben und von der Not des letzten Stündleins.Weiche, laue Nebel wallten vor ihren Augen und deckten alles Nahe und Ferne zu. Das arme Weib strengte ihre Sinne an, durch die Schleier hindurchzusehen, die immer dichter aus Tiefe und Höhe zu strömen schienen und sie mit wohliger Wärme umfingen wie gute Träume. Da erhob sie sich, und das Waislein auf ihren Armen erwachte. Sogleich reckte es seine rosigen Händlein und rief halb wimmernd, halb liebkosend "Väterchen, Väterchen!" in den dichten Nebel. Und siehe da, nun gewahrte auch die Mutter eine graue Gestalt, die unbeweglich wie ein Wächter zu ihren Füben gestanden hatte. Aber sie sah wohl, er trug nicht das Antlitz ihres toten Mannes. Gleichwohl war er gekleidet wie jener, als er mit dem Heere des Kaisers in Krieg und Elend auszog. Nur war der feldgraue Rock von Sonne und Regen ausgezogen, als wäre er von der Glut fremder und ferner Länder versengt, von hundertfältigen Regengüssen und den Wässern durchwateter Ströme ausgewaschen. Wie rostzerfressen saben die Knöpfe mit der Krone des Königs in dem mürben Tuch. Das Leder der hohen Stiefel war rissig und erdfarben geworden, und an den Knien war das Tuch zerscheuert, als wäre der Mann über Kiesel und Geröll gekrochen oder hätte auf hartem Stein knien müssen.

Der Helmbezug hatte die Farbe fahlen Dürrgrases, und nur von der Waffe, die ihm zur Seite hing, ging ein heller Schimmer aus wie von blankem Stahl.>Schon wollte das arme Weib den Fremden ansprechen, da sah sie ihm ins Gesicht und verstummte schüchtern. Denn in den Augen des stillen Mannes lag ein gütiger, aber tödlicher Ernst, als hätten sie das blutige Leiden und Sterben der Menschheit hundertfältig erblickt. Es glomm aus ihnen ein dunkler Schimmer wie der Widerschein mächtiger Brände und rauchender Trümmerhaufen. Da versagte dem Weibe Wort und Frage. Aber der Graue langte mit ruhiger Gebärde nach dem armen Waislein, das sogleich die Ärmchen um seinen Hals schlang und schmeichelnd sein "Väterchen" lallte. Da, als die Frau ihr Knäblein vertraut wie ein junges Rehlein auf den dunkeln Armen des Fremden liegen sah, fabte sie sich ein Herz und fragte leise: "Wo bin ich?" Der Graue sah ihr darauf so ernst ins Antlitz, dab sie spürte, wie ihr alle Farbe aus Wangen und Stirne wich. Aber der Fremde strich nun auch ihr schwichtigend mit seiner kühlen Hand über die zuckenden Schläfen und sprach: "Lab nur und sei still! Ich weib wohl, woher du kommst und wohin du willst. Du suchst einen Toten, den du lieb hast, und bist ihm sehr nahe."

Sogleich warf die junge Witwe schluchzend die Hände ineinander und rang sie gefaltet empor. "So sind wir tot", fragte sie stammelnd, "und wahrhaftig vor Gottes Tür. Denn, ach, ich weib, wie gut er war, und dab Gott ihn zu sich genommen hat!"Der Graue bewegte mitleidig verneinend das Haupt. "Stille", sagte er darauf, "du bist weder in Himmel noch Hölle. Auch bist du nicht tot. Du bist einen stillen Weg gegangen, den niemand findet, als wer so armselig und schuldig durch die heilige Nacht irren mub wie du. Harre noch ein weilchen, so wollen wir den suchen, den du sehen wolltest. Das ist Gottes Christgabe, die dir und deinem Waislein werden soll.""Wo bin ich?" fragte das Weib abermals, obgleich ihr das Herz zag war und wie ein Glöcklein im Winde zitterte. Antwortete der Graue: "Du bist bei den toten Soldaten. Aber sie sind Gottes Soldaten geworden, die vordem Soldaten des Kaisers waren. Sie haben noch keine Ruhe, denn Gottes Krieg mit den Seelen der Lebendigen währt noch immer. In der innersten Tiefe der Erde liegen die toten deutschen Soldaten auf Wacht nach Gottes Willen und tun Dienst auf Erden in seinem grauen Heere, ehe sie zu den hellen himmlichen Heerscharen eingehen dürfen, die die Weiten des Himmels erfüllen." "Ich verstehe dich nicht," flüsterte das arme Weib, und die Brust war ihr sehr enge und bang. "Lab nur," antwortete der Graue, "bald wirst du alles besser wissen. Wer in der Christnacht ausgeht wie du, der findet den Weg, den er sucht. Folge mir jetzt!"

Er schritt ihr voran, und das Knäblein der Witwe lag geruhig schlummernd auf seinen Armen. Sein helles Gesichtlein leuchtete über dem dunklen Manne wie frommer Sternenschimmer und glitt voraus wie ein Licht auf dunkeln Wegen. Dem Scheine schritt das arme Weib nach, immer tiefer in den Nebel hinein, der dichter und dichter wurde und zuletzt wie ein grauer Vorhang vor ihren Augen wallte.Endlich stand der Führer stille, hob die Rechte und zerteilte mit ihr den Nebel, als schlüge er einen Vorhang zurück. Alsbald weitete sich ein heller, schimmernder Grund vor den Augen des Weibes. Lange suchten ihre Augen die Quellen des guten und frommen Lichtes, das sie umgab. Denn ihr zu Häupten war nichts als linde, dunkle Luft, die kein Auge durchdringen konnte. Weder Sonne, Mond noch Sterne erhellten die Tiefe, und nicht Fackeln noch Lichter brannten über dem Grunde.Das Leuchten lag wie ein zarter, rosiger Hauch über einem diamantklaren See, der den ganzen Grund erfüllte und nur leise perlend gegen die dunklen Ufer anlief. Graue Wächter, die dem Führer wie Brüder glichen, saben und standen ernst und schweigend um die Flut, als hielten sie Uferwacht an heiligen Wassern."Du bist bei den toten Soldaten," sagte der Führer zu dem Weibe. "Siehe, ob du den findest, den du suchst. Vermagst du's, so rede ihn an, er wird dir antworten. In der Christnacht ist den Toten vergönnt, mit Menschenstimme zu reden; sonst kommen sie nur als Träume, Gedanken und Schatten zu den Lebendigen zurück."Das arme Weib fabte sich ein Herz und blickte suchend in die Gesichter der grauen Männer, die ihr nahestanden. Da gewahrte sie, dab die Gesichter der stummen Hüter sich seltsam glichen. Denn alle waren überschattet von dem tiefen Ernst, der ihr auch aus den Augen des Führers entgegendunkelte. Dieser Ernst war heilig und tödlich zugleich, und in seinem dunklen Schimmer lösten sich die gesichtszüge der Männer wie Schatten unter einer düsterroten Fackel. Das arme Weib konnte das geliebte Antlitz ihres Toten nicht entdecken, und ihre Augen schweiften bang und hilflos über die lichte Flut nach dem jenseitigen Ufer, wo die Schatten vieler tausend Männer sich aus dem Dunkel hoben.Da gewahrte sie auch die rosigen Quellen des ungewissen Lichtes, das hold und fromm über den Wassern lag.

Ungezählte hellhäutige Kinder glitten auf der stillen Flut hin und wieder, und von ihren zarten Körperchen ging der Rosenschimmer aus, der die Tiefen des Grundes erfüllte. "Wer sind diese Kleinen?" fragte das Weib den Führer, und er antwortete: "Es sind die Seelen der ungeborenen Kinder deines Volkes. Gott der Herr hat die toten Soldaten zu ihren Hütern bestellt, bis sie ins Leben treten." "Und was ist das für ein See, über dem sie spielen, wie über einer hellblumigen Wiese, dab ihnen kaum die Knöchel der Fübe feucht werden?"Da wurde das Antlitz des grauen Führers noch dunkler, und er antwortete: "Wisse, du Arme, dieser See rinnt zusammen aus den ungezählten Tränen, die die Lebendigen um die toten Soldaten weinen. In diesen Tränensee sind auch deine Zähren geflossen. Uns aber hat Gott der Herr an der Schmerzensflut in der innersten Tiefe der Erde zu Hütern der Ungeborenen bestellt, auf dab wir ihre Seelen in den Tränen ihres Volkes baden, ehe sie ins Leben treten. Davon werden sie stark werden und rein bleiben, auch wenn der Staub der Erde sie anwehen wird.""Was aber tun diese da?" fragte das Weib und deutete erschauernd auf einige der Grauen, die am Ufer lagerten und in ihrer Mitte eine helle Schar der ungeborenen Seelchen zu weiden schienen, die sich mitten unter den Grauen wie zu einem schönen, schimmernden Blütenbeet zusammendrängten.Der Führer dämpfte seine Stimme, als spräche er in einer Kirche und sagte: "Siehe, die toten Soldaten halten Zwiesprache mit den Seelen der Ungeborenen. Ins Leben geschickt, werden die Ungetauften die Worte ihrer Hüter vergessen haben, aber aus ihren Seelen wird den Lebendigen der feine, klare Duft dieser vergessenen Stunden entgegenströmen, so wie geschliffene Gläser jahrlang den Duft des Rosenöls ausströmen, das sie einmal bewahrt haben."Indem sie so sprachen, jauchzte das Kind auf den Armen des Führers in kindlicher Lust und suchte sich ihnen zu entwinden. Die Mutter sah, wie es verlangend einem der hellen Seelchen entgegenstrebte, das schimmernd über der Flut spielte als über einer duftigen Wiese.Da nahm das arme Weib ihr Kleines in die eigenen Arme und sagte bittend: "Darf er ein Weilchen mit den schönen Kindern spielen?" Der Führer nickte Gewährung.

"Ja", sagte er gütig, "lab deinen Kleinen mit den reinen Seelchen der Ungeborenen spielen! Davon werden seine kleinen Hände lebenslang facht und fromm leuchten, und wessen Stirn oder Hand sie berühren, dessen Blut wird leicht und lieblig zu wallen anfangen und Kraft durch den Körper strömen."Da hob das arme Weib die Fübe und suchte dem hellen Kindlein entgegen über die Flut zu wandeln. Aber sobald ihre Sohlen die stillen Wasser netzten, fühlte sie, dab ihre Fübe wie schwere Steine in die feuchte Tiefe sanken und sie nachziehen wollten. "Es geht nicht," sagte sie traurig und trat ans Ufer zurück. "Nein," sagte der graue Führer mitleidig, dich trägt es nicht. Die Lebendigen mübten in diesen Wassern ertrinken und vergehen. Aber das Ungeborene gleitet mit rosigen Füben leicht darüber hin und steht schön und fromm wie ein helles Licht über der Flut, das seinen rosigen Strahl in die Tiefen schickt. Es atmet den Duft der Tränen als einen Blütenduft auf, der das Blut klar und rein macht." Drauf winkte er schweigend dem Seelchen, das sogleich wie eine schimmernde Blüte ans Ufer trieb. Gleich stand es wie ein liebliches nacktes Menschenknäblein am Ufer, fügte seine helle Hand in die dunklere des armen Waisleins, und beide entsprangen fröhlich in den lichten Kreis der Gespielen, die unter den grauen Hütern am Ufer saben und ihnen lauschten, wie Kinder auf Erden den Märchen ihrer Mutter lauschen."Sieh," sprach der Führer zum Weibe, "dieser Wachdienst der toten Soldaten an den Ungeborenen ist so heilig wie vordem ihre Schwertwacht vor den Türen des Kaisers."

"Wie lange müssen die toten Soldaten hier drunten wachen?" fragte das Weib erbebend. "Bis der See der Tränen versiegt ist", antwortete der Führer und lächelte traurig. "Danach wird Gott andere Wächter statt ihrer über die Erde setzen, einen weisen König oder eine Schar von Priestern, wir wissen nicht wen. Aber davon ist jetzt nicht zu reden. Denn unaufhörlich noch rinnen die Tränen der Witwen und Waisen, der Mütter und Bräute als Quellen und Bäche zu und mehren die heilige Flut."Das arme Weib lieb die Augen schweifen und vermeinte nun ein leises Rinnen und Rieseln zu hören wie von zahllosen heimlichen Quellen, und die Perltropfen der Flut schienen immer höher gegen die Ufer zu spielen. "Dieser See wird nie versiegen!" seufzte das arme Weib und schlob erschauernd die Augen. "Einmal wird auch er versiegen, wie alles, was von der Erde kommt," antwortete der Führer ernst. "Aber wir müssen noch lange wachen und harren. Erst wenn der See ausgetrocknet ist, gehen die grauen Hüter in das Reich der tausend Sinne ein und werden der armen Erde ledig.""Was ist das, das Reich der tausend Sinne?" fragte das Weib, und der graue Führer antwortete: "Es ist das, was ihr auf Erden den Himmel nennt. Ihr auf Erden dürft nur mit fünf armen Sinnen den Reichtum der Welt fühlen, sehen, hören, riechen und schmecken. Danach aber kommt ihr in das Reich der tausend Sinne und werdet mit Kräften begabt, die sich mit Menschenworten nicht nennen lassen. Darüber sind noch tausend Reiche, in denen die Seelen wohnen werden auf ihrer Wanderung zu Gott wie in Gasthäusern am Wege.

Und jedes Haus, das sie herbergt, wird mehr helle Fenster haben als vorige. Aber stille davon, denn du kannst mich nicht völlig verstehen. Was ihr Lebenden Sterben nennt, nennen wir Toten Geborenwerden, und du bist noch nicht geboren. Komm jetzt und suche den, den du lieb hast!" Und das Weib folgte ihm, eingelullt von seinen dunklen Worten wie eine Schlafwandelnde und Träumende.>Sie tat einige zage Schritte hinter dem dunklen Führer und spürte, wie der rosige Schein hinter ihr verglomm. Sie stand wie vordem im Dunkel, das sich wie eine Wand vor ihren Augen aufbaute. Sie tastete sich mit ihren Händen vorwärts und folgte leise lauschend dem dunklen Rauschen der Fübe ihres Führers. Nach einer Weile stand dieser stille und sprach leise: "Siehe, nun stehst du vor der Herzkammer der Erde, in der der heimliche König regiert!""Wer ist das, der heimliche König?" fragte das Weib, und der Graue Antwortete: "Es ist täglich ein anderer und immer dieselbe. Er wacht auf seinem Thronsitz in der Herzkammer der Erde, wo alle Geräusche der oberen Welt zusammenflieben; dort lauscht er auf die tausendfältige Musik der Stimmen der Lebenden. Gott der Herr hat ihm geboten, zu wachen, dab die Musik der Stimmen seines Volkes rein, stark und fromm töne wie eine gewaltige Orgel. Darum sitzt er auf seinem Thron und lauscht. Jeder Mibton aus der vielfältigen Musik läbt das Schwert in der Hand des heimlichen Königs leise erklirren. Dann tritt ungerufen einer seiner grauen Brüder, die hier um uns her ungesehen im Dunkeln vor seiner Tür lagen und wachen, an seinen Thron, und der heimliche König gibt ihm leise raunend Befehl und Auftrag.

Er hört alles, was die Überlebenden seines Volkes droben auf Erden denken, reden und singen, jeden Seufzer, jedes törichte Lachen, jeden Schrei und jedes Lied. Und so er einen Mibklang austilgen will, sendet er seine grauen Boten durch die Nacht, und sie wandeln durch schlösser und Bettelkammern, durch die Erdhöhlen der Schlachtfelder und an die Tische der Könige. Sie wandeln und löschen das leichtfertige Lachen aus, wie man Lichter an liederlichen Tafeln auslöscht. Wo Selbstsüchtige und Prasser schwelgeln, setzt sich der Sendbote des heimlichen Königs als grauer Gast unter die Feiernden und wirft seine Schatten über die helle Tafel, bis ihnen die Herzen schwer wie Steine werden, die eben noch wie Sommervögel sangen. Der heimliche König hat keinen Namen. Er wechselt täglich, wie die Wächter vor dem grauen Schlosse eures Kaisers sich ablösen. Täglich tritt ein anderer aus der Schar der toten Soldaten in die Herzkammer der Erde und sitzt auf dem Thron des heimlichen Königs nieder, um Dienst an der Seele seines Volkes zu tun und sie zu pflegen wie eine alte, heilige Orgel."Indem er noch so sprach, stieb er leise eine dunkle Tür auf, schob das Weib in die wunderbare Helle, die ihr entgegenflob, und lieb leise die Tür hinter ihr ins Schlob gleiten."Siehe," raunte er ihr zu, "nun stehst du in der Herzkammer der Erde und vor dem heimlichen König. Störe ihn nicht! Er wacht über die Erde, deine Stimme würde ihn erzürnen. Kein einzelner darf sein Anliegen vor ihn tragen."Aber das arme Weib hörte ihn kaum. Herz und Auge und Ohren waren ihr in andächtiges Schauen und Lauschen versunken

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Die Herzkammer der Erde war wie ein hellräumiger Altarschrein in eitel wasserreinen Diamantstein geschnitten, und von den strahlenden Wänden flob tausendfältiges Raunen und Tönen rauschend nieder wie ferne Musik. Alle Helle aber wurde überstrahlt von einem tiefen, glühenden Glanze, der wie Rubinschein von der Krone des heimlichen Königs ausging.>Der graue Führer sah wohl, dab die Augen des Weibes in andächtigem Beschauen an dem heiligen Feuer der Kronjuwelen des heimlichen Königs hingen, und er sprach: "Diese Edelsteine haben keinen Namen. Gottes Engel haben das reinste Blut von den Schlachtfeldern gesammelt, und alsbald lag es als rotes Edelgestein in ihren lichten Händen, wie Perlen in perlmutternen Schalen. Diese Steine haben Gottes Engel in die Krone der heimlichen Könige gefügt, und sie sind eine göttliche Probe. Denn wenn nach Nacht und Tag einer der grauen Brüder den andern auf dem Thronsitze ablöst, wird ihm zuerst die Krone als eine Prüfung aufs Haupt gesetzt, und nur wenn die roten Steine tiefer aufleuchten, darf er die Krone in der Herzkammer der Erde tragen und als heimlicher König walten. Sonst mub er den Thron einem andern räumen, der reiner ist als er."Als die Augen des Weibes sich an dem Wunderglanz der Märtyrerkrone sattgetrunken hatten, schweiften sie schüchtern über die Gestalt des heimlichen Königs.

Und sie erstaunte. Denn sie erschaute keinen Heiligen im Kronornat, sondern einen einfachen Soldaten im zerschlissenen und erdfarbenen Mantel. Und als sie die Augen zu seinem dunklen Antlitz hob, erkannte sie die Züge ihres lieben Toten. Aber aus dem vertrauten Angesicht lohte ein so furchtbarer Ernst und seine Gestalt war von einer so fremden Hoheit umkleidet, dab sie nicht wagte, ihn anzusprechen. Sie vermeinte, ihren eigenen Herzschlag unrein und störend in die heilige Musik tropfen zu hören, die den Raum erfüllte. Ihre Todesschuld fiel ihr lastend aufs Herz, und die Knie wurden ihr lab vor Herzensbangigkeit.Der heimliche König schien sie nicht zu gewahren. Sein Angesicht war durchscheinend hell, wie er in fernhöriger Wachsamkeit dem tausendfältigen Tönen lauschte. Ab und zu erklirrte das Schwert, das über seinen Knien lag, leise und zornig, und einer der grauen Brüder trat zum Thron und nahm Befehl und Auftrag entgegen. Immer reiner und voller rauschten die unsichtbaren Chöre. Dem armen Weibe wuchs mählich der Mut, und nun vernahm sie auch einzelne Stimmen aus dem Tönen und Brausen. Ein Lied flob tönend an den kristallklaren Wänden nieder, bei dessen Klängen glitt es wie Sternenlicht über das Antlitz des heimlichen Königs. Das arme Weib lauschte. Da hörte sie die lebenden Brüder der grauen Wächter auf fernen Schlachtfeldern singen. Und sie sangen dieses Lied:

"Als einst der ros'ge Christ geboren
in Bethlehem zur Weihenacht,
hat Gott den Hirten vor den Toren,
durch schöne Engel auserkoren,
die erste Kunde zugebracht.

Die graue Hüter auf dem Felde
in dunkler Weihenacht sind wir.
O, dab vom Wasgau bis zur Schelde
der nächt'ge Himmel sich erhellte
und Gottes Engel trät' herfür!

Einmal gibt Gott uns doch den Frieden,
so oder so, nach seinem Sinn;
sei's droben, sei's im Sieg hienieden,
wir nehmen, was er uns beschieden,
demütiglich als Weihnacht hin.

Mit deinen Engeln, deinen schönen,
du ros'ger Christ, kehr' ein, kehr' ein!
Die wunden Herzen zu versöhnen,
lab du dein Friede - Freude tönen!
Die grauen Hüter harren dein..."

Je länger das arme Weib in die Züge des heimlichen Königs schaute, desto vertrauter wurden sie ihr, und sie wurde fast schüchtern, den armen Bauern so in heiliger Pracht walten zu sehen. "Es kommt ihm nicht zu," dachte sie in Herzensangst. "Er ist auf Erden hinter dem Pflug gegangen und hat erborgtes Korn in die Herrenerde gestreut.">Der graue Führer ihr zur Seite schien ihre Gedanken wie Stimmen zu hören, denn er antwortete ernst: "Schweig' stille! Hier gilt nur die Würdigkeit und Reinheit des Herzens. Alles andere ist Tand. Die heiligen Steine der Krone leuchten über seiner armen Stirn und weihen seine Hände, dab sie würdig sind, Schwert und Reichsapfel der heimlichen Könige zu tragen."

Jetzt gewahrte das Weib in der Linken des heimlichen Königs eine schlichte erdfarbene Kugel, die er wie ein Herrscherzeichen auf seinem Knie ruhen lieb. "Es ist die Handvoll Erde, die er im Todeskampf aus dem Acker zusammenballte, auf dem er verblutete," sprach der graue Führer. "Jeder der toten deutschen Soldaten trägt solche Kugel, die alsbald die Gestalt der Erdkugel annimmt, in der Linken und sein Schwert in der Rechten als ein Zeichen von Gott, dab er unser rechter Bruder und ein Wächter ist, der über die lebendige Erde gesetzt ist. Aber nun folge mir, denn du hast alles gesehen, was du begehrt!" Da wandte sich das arme Weib bescheiden zur Tür. Aber indem sie demütig zum Abschied das Haupt senkte, neigte sich der heimliche König zu ihr und sah ihr ins Auge. Das Weib sank in die Knie. Da reichte ihr der heimliche König einen Goldenen Becher und sprach drei Worte: "Tränke meinen Knaben!" Und er reichte ihr eine perlfarbene Muschel, in der lagen dünne Scheiben wie Altarbrot, und sprach wiederum drei Worte: "Speise meinen Knaben!" Danach bewegte er die Hand wie zum Segen, zugleich fühlte sich das arme Weib sanft vom boden gehoben und lieb sich willenlos aus der heiligen Halle in die rosige Dämmerung des Tränensees zurückleiten.

Da, als sie am Ufer der weiten Flut nach ihrem Knäblein Umschau hielt und eben die Stimme erheben wollte, ihm zuzurufen, legte ihr der graue Führer seine kühle Hand mit sanftem Zwang auf die Lippen. "Stille," sagte er leise, "denn die Toten der Christnacht wollen einziehen in unser Reich." Zugleich gewahrte das Weib einen dunkeln feierlichen Zug, der sich langsam dem lichten Grunde näherte und dessen schattenhafte Gestalten von dem rosigen Lichtrauch wie von Weihrauchwolken umwallt wurden. Je vier der grauen Wächter trugen schwer ausschreitend düstere Bahren, und auf jeder der schlichten Bahren ruhte still und bleich ein toter Soldat, ganz in dunkles Tannengrün gebettet und die weibe Stirn mit Tannenreisern bekränzt. In den Tannenzweigen leuchtete es hie und da, als zögen sich lichte Fäden von Weihnachtsgold hindurch, und von den fichtenen Bahren schimmerten stille, friedliche Kerzen wie von Christbäumen nieder. Wo aber die Sohlen der schweigsamen Träger den Boden berührten, da hob ein heimliches Sprudeln und Rieseln an, als entsprängen unter den dunkeln Füben helle Brünnlein und Quellen, die sickernd der leuchtenden Flut zurannen. Mit eins wurde das Raunen und Rieseln überrauscht von den Wogen eines schwellenden Gesanges, der aus der Herzkammer der Erde zu fluten schien:

"Ihr toten deutschen Soldaten,
grau endlos ziehende Schar,
wie leuchten von Leiden und Taten
die Stirnen euch bleich und klar!

Ihr scheidet von Sonnen und Saaten,
nach blutiger Heldenfahrt
und werdet Gottes Soldaten,
wie ihr Kaisers Soldaten war't.

Gott schart euch zu grauen Heeren
und setzt euch zu Wächtern der Zeit
am hellen Brunnquell der Ehren,
am dunklen Brünnlein Leid.

Als heimliche Könige schaltet,
gesalbt mit Erdenschmerz,
ihr über die Erde und waltet
still über des Volkes Herz.

Fest als Reichsapfel haltet
die Handvoll Ackerland,
die ihr sterbend zur Kugel balltet,
ihr königlich in der Hand.

Die Herrscherzeichen blinken
von beiden Händen euch wert:
der Reichsapfel in der Linken,
in der Rechten das deutsche Schwert.

Ihr heiligen grauen Reihen
geht unter Wolken des Ruhms
und tragt die blutigen Weihen
des heimlichen Königtums!"

Indessen hatten die Bahrträger den Rand des Sees erreicht und setzten die kranzbeschwerten Lasten nieder. Und sobald die Flut die grünen Reiser anspülend netzte, erhoben sich die toten Soldaten von ihren Bahren und mischten sich schweigend unter die dunkle Schar der grauen Brüder. Nur an den Tannenreisern, die sich um ihre weiben Schläfen wanden, waren die Toten der Christnacht unter den anderen kenntlich.>Aber seit der Gesang aus der Herzkammer der Erde verstummt war, lieb sich das heimliche Rieseln der zurinnenden Brünnlein wieder deutlich vernehmen. Davon wurde dem armen Weibe das Herz bitter schwer, und auch ihr Knäblein rührte ein unverstandenes Grauen an, dab es sich an die Knie der Mutter drängte und schmeichelnd heimbegehrte. Schweigend ergriff der graue Führer die Hand des Weibes und geleitete sie von dannen. Aber indem das arme Weib den Schritt ins Dunkel zurückwandte, vernahm sie hinter sich ein unbegreiflich sübes Tönen und spürte, wie die Weiten des Sees heller als je zuvor wie in lichter, himmlicher Morgenröte erstrahlten. Über den schimmernden Fluten sangen die reinen Seelen ihr Lied:


 

Zwei Vöglein sah ich schwingen,
die schwangen auf und ab,
zwei Vöglein hört' ich singen
auf meines Bruders Grab.

Eins schwang auf grauen Flügeln,
eins glänzte rosenfarb,
sie sangen auf den Hügeln,
wo mir der Bruder starb.

Ein Liedlein grau und öde,
rann trüb wie Sand in Sand:
"Dein Bruder, der liegt schnöde
in Feindes Land und Hand."

Das Vöglein rosafarben
sang glockenrein ins Land:
"Süb schlafen, die da starben,
in Gottes Land und Hand."

Ein Sternlein tat ich nehmen,
Grauvöglein strich weitab.
Sein Lied soll dich nicht grämen,
Kam'rad im stillen Grab!

Doch vom Soldatenbrote
verstreut ich Bröselein
wohl für das rosenrote,
das Himmelsvögelein.


Es soll sich fromm gewöhnen
an das Soldatengrab
und soll von Liebe tönen
ins liebe Herz hinab.


Kein fremder Laut soll klingen
tief unter Schnee und Feld,
die Himmelsvöglein>singen
deutsch durch die ganze Welt.


Der Schnee ging engelleise,
ging engelflügelsacht,
des Rosenvögleins Weise
rinnt süb durch Tag und Nacht...

"Verzeih mir meine Härte", bat er leise nach einer Weile das arme Weib. "Ich weib, du kommst von dem heimlichen Könige aus der Herzkammer der Erde. Denn einer seiner grauen Boten war in dieser Nacht bei mir und hat es mir gesagt. Du sollst fortan ungekränkt mit deinem Knaben in deines Mannes Hause wohnen, und ich will's euch zu eigen geben, auf dab mir Gott meine Herzenshärtigkeit nicht anrechne.">Alsbald nahm er die Hände des armen Weibes und ihres Knaben und geleitete sie demütig bis über die Schwelle ihres Hauses, dab sie dort ungekränkt wohnen und Brot und Becher wie in einem frommen Tempel für Kind und Kindeskind als heiliges Erbe bewahren sollten nach dem Willen des heimlichen Königs in den Tiefen der Erde.